Tridacnidae: Ein Mythos im Meer
Viele Mythen und Geschichten ranken sich um die Riesenmuscheln der Gattung Tridacnidae. „Mördermuschel“ und „Killermuschel“ werden sie oft genannt — völlig zu Unrecht! Dabei zeigt die Mythenbildung vor allem eines: Schon seit jeher geht eine große Faszination von diesen Tieren aus. Dass die Tridacna auch in Meerwasseraquarien gehalten werden kann, ist dagegen noch weitgehend unbekannt. Dabei wissen diese traumhaft schönen Muscheln auch hier zu begeistern!
Dieser Artikel ist Teil einer Artikelreihe rund um „Erlebnisse mit Meerwasser-Aquarien“. Unser Autor Andreas Berns — Aquarienberater mit langjähriger Erfahrung mit Aquarien jeglicher Art und Größe — berichtet in dieser losen Sammlung anekdotisch und kurzweilig über besondere Aquarienbewohner, interessante Integrationsprojekte und kuriose Erlebnisse. Dabei gibt er auch wertvolle Tipps zur Haltung der beschriebenen Arten.
Bisher erschienen sind folgende Geschichten:
Vorsicht Gift: Feuerfische im Riffaquarium
Ganz schön clever: Ein Palettendoktor zieht um & wird sozialisiert
Tridacnidae: Ein Mythos im Meer
Das „falsche Bild“
„Mördermuschel“ – so steht es heute leider immer noch häufig an den Verkaufsbecken in Zoogeschäften, in Buchbeschreibungen und sogar an den Schau-Aquarien einiger zoologischer Gärten. Im Grunde ist das ärgerlich, denn Händler, Autoren und Zoopersonal wissen es natürlich besser. Doch sie nutzen immer noch die Mythen und Gerüchte, die sich um die Riesenmuscheln ranken, zur besseren Vermarktung.
Nach wie vor kursieren Geschichten von angeblichen Taucherunfällen, bei denen Riesenmuscheln Menschen mit ihren mächtigen Schalen ergriffen und festgehalten haben sollen. Tatsächlich ist jedoch kein einziger authentischer Fall bekannt, bei dem ein Mensch von einer Riesenmuschel „gefangen“ oder getötet wurde.
Die einzige Gefahr, die von den Muscheln für Mensch und Tier ausgeht, ist die, versehentlich zwischen die Schalen zu greifen und somit den Schließreflex der Muscheln auszulösen.
Unterstützt wird der Glaube an die Geschichten über die angeblich gefährlichen Riesenmuscheln nicht von realen Erlebnissen, sondern vielmehr durch Unkenntnis der Entstehungsgeschichte und der Lebensweise dieser wunderschönen Tiere.
Dabei fanden die Riesenmuscheln der Familie Tridacnidae schon in der Vergangenheit und außerhalb der Tierforschung oder aquaristischen Themengebieten reichliche Beachtung:
Seit dem Mittelalter werden der Natur entnommene Schalen der Riesenmuscheln in Kirchen als Weihwasser- und Taufbecken genutzt. In der indopazifischen Region wurden und werden aus den dicken Schalen der Tiere Werkzeuge und Figuren für Zeremonien hergestellt. Auf den Salomon-Inseln wurden die Schalen geschnitten und als eine Art Zahlungsmittel genutzt, sie waren Symbol für den Wohlstand eines Stammes. Die Perlen von Tridacnidaemuscheln waren auf Grund Ihrer Größe oft Gegenstand materieller und ritueller Nachstellungen – eine der größten bekannten Perlen erreichte ein Gewicht von sieben Kilogramm und einen Durchmesser von 23 Zentimeter und wurde unter dem Namen „Allahs Perle“ weltbekannt.
Alle diese Umstände – gepaart mit dem oft riesigen Wachstum und der gleichzeitig fast unwirklich schönen Erscheinung – nährten lange Zeit das falsche Bild der Riesenmuscheln.
Abstammung und Entstehung
Die Familie Tridacnidae gehört zur Ordnung der „Lamellenkiemer“ Eulamellibranchia und als diese wiederum zur Klasse Bivalvia (Muscheln). Alle Muscheln gehören ebenso wie die Schnecken, Tintenfische und einiger weiterer Klassen zum Stamm der Molluska (Weichtiere).
Auf Basis von Fossilienfunden stellt sich die Entstehungsgeschichte der Riesenmuscheln nach heutiger Sicht wie folgt dar:
Vor über 600 Millionen Jahren (im Präkambrium) entwickelten sich aus einem primitiven „Urweichtier“ die ersten Mollusken. Damals wie heute war fast allen Mollusken ein schalenförmiger Körperschutz gemein, wie z.B. bei den späteren Schnecken und Muscheln. Nur in der evolutionsgeschichtlich sehr jungen Familie der Cephalopoden (Kopffüßer) haben viele Arten (Tintenfische) die ehemals äußere Schutzschale zu einer im Körperinneren sitzenden kalkhaltigen Substanz (Schulp) oder in hornige Form (Schnabel des Tintenfisches) umgewandelt.
Vor ca. 400 Millionen Jahren (im Silur) datieren die ältesten Fossilienfunde der ersten Muscheln (Bivalvia). Die tatsächliche Entwicklung wird auf die Zeit des Kambrium oder Ordovizium (vor 425 – 500 Millionen Jahren) vermutet. Den Bivalvia gelang es, das Problem des nahezu vollkommenen Körperschutzes dadurch zu lösen, dass sie ihre ursprüngliche Schutzschale in zwei Hälften aufteilten, die durch ein Halte- und Schließscharnier miteinander verbunden sind. In dieser beschriebenen Zeitepoche wird auch die Entwicklung der Riesenmuscheln vermutet.
Riesenmuscheln – eine ganz besondere Spezies
Die Familie der Tridacnidae bewohnt die indiopazifische Region. Am bekanntesten ist Tridacna gigas, deren Gehäuse über 130 cm lang, und deren Gewicht bis zu 250 Kilogramm erreichen kann. Während sich die anderen Muschelarten fast alle am liebsten kopfüber verbergen (also mit dem Schalenscharnier nach oben) und häufig im Substrat eingraben, bleibt die Riesenmuschel stets exponiert. Anders als „normale“ Muscheln, die aufrecht mit dem Mantelsaum nach unten und dem Schloss nach oben im Sand verborgen stehen, liegt die Tridacna mit dem Magen nach oben zwischen den Korallen. Das Schalenschloss ist dabei nach unten gerichtet und der Mantelsaum deutlich nach oben ausgebreitet.
Durch die geöffneten Schalenhälften sieht man den leuchtend gefärbten Mantel, die Farbpalette reicht von orange über purpurn bis blau und grün. Oft ist der Mantel von braunen, schwarzen oder metallig schimmernden Streifen- und Fleckenmustern geziert. Wann immer ein Lichtschein auf die Muschel trifft, hält sie ihren leuchtend bunten Mantel in das Sonnenlicht.
Fragen und Antworten
Die ersten Meeresbiologen, die Riesenmuscheln in ihrem Lebensraum untersuchten, standen zunächst vor vielen ungelösten Fragen:
Alle bekannten Muschelarten leben von dem, was sie aus dem Wasser herausfiltern — wie aber kann ein so großes Tier in den extrem nährstoffarmen Gewässern der Korallenriffe überleben? Womit befriedigt es seinen großen Nahrungsbedarf? Und woher rührt die enorme Leuchtkraft des Mantels und welchen Sinn hat sie. Und schließlich: Wie vermehren sich Riesenmuscheln?
Überraschende Antworten
Die Erforschung der Tiere führte zu einigen überraschenden Antworten auf diese Fragen. Die wichtigste: Das riesige Weichtier überlebt in den nährstoffarmen Riffgewässern mit Hilfe einer Symbiose, die es mit Zooxanthellen (einzelligen Algen) eingeht.
Dabei beginnen die Riesenmuscheln bereits im Larvenstadium damit, Algen (Zooxanthellen) in ihrem Mantelsaum zu kultivieren. Bereits ab der dritten Lebenswoche gestalten die Larven ihren Körper entsprechend der Bedürfnisse der zu kultivierenden Algen um. Das Schalenscharnier, das zunächst wie bei allen anderen Muscheln oben liegt, wandert nach unten, die Atemrohre wandern nach oben und vergrößern sich um ein Vielfaches zum Mantellappen.
Durch die Entwicklung eines speziellen Kanalsystems, das den gesamten Mantellappen durchzieht, wird Siedlungsraum für größte Mengen an Zooxanthellen geschaffen.
Die Muscheln schaffen also möglichst optimale Bedingungen für die für ihr Überleben so wichtigen Algen. Während die jungen Muschellarven sich noch überwiegend von feinstem Plankton und gelösten Futterstoffen ernähren, die sie aus dem Wasser filtrieren, ernähren sich die fertig entwickelten Muscheln fast ausschließlich über die Photosyntheseprodukte der Algen.
Dazu strecken die Muscheln ihren Mantel mit den darin befindlichen Zooxanthellen dem Sonnenlicht entgegen. Nur so können „ihre“ Algen die Photosynthese durchführen und sie selbst sich von deren Photosyntheseprodukten ernähren. Im Gegenzug erhalten die Algen (neben dem „Siedlungsraum“ an sich) sowohl Stoffwechselprodukte der Riesenmuscheln als auch Schutz und perfekte Lichtverhältnisse.
Eingebaute Linsen verbessern die Lichtausbeute
Die Notwendigkeit zur „Versorgung“ der Algen mit perfekten Lichtverhältnissen beantwortet auch die Frage nach den Gründen für die enormen Leuchtkraft des Mantels: Diese beruht auf Iridozyten, winzigen Linsen aus organischem Material, mit deren Hilfe die Muschel das richtige Lichtmaß für den optimalen Photosyntheseprozess der Algen einstellt. Ein Nebeneffekt ist, dass diese Linsen einen Teil des eingefangenen Lichtes nach außen reflektieren und somit die Leuchtkraft des Mantels bewirken.
Das Wachstum der Riesenmuscheln ist unmittelbar von der funktionierenden Ernährung durch die Zooxanthellen abhängig. Je nach der Qualität der Versorgung der symbiotischen Algen mit Licht und Nährstoffen gestaltet sich das Größenwachstum der Muscheln selbst ganz unterschiedlich. Auf Phasen des Wachsens folgen Phasen der Pause. Klimatische und ernährungsbedingte Engpässe spiegeln sich in langsamerem oder gar stagnierendem Schalenwuchs wider, was sich in engeren oder unregelmäßigen Wachstumslinien auf der Schale zeigt.
Und schließlich konnte auch die Frage bezüglich der Fortpflanzung der Riesenmuscheln durch Naturbeobachtungen schnell geklärt werden, sie verläuft analog zu den Vorgängen anderer sessiler mariner Tierarten:
Gesteuert durch den Mondzyklus, aber auch angeregt durch sich verschlechternde Wasserparameter, stoßen die Tridacnidae entweder Eier und Spermatozoen ins Wasser aus. Die Befruchtung erfolgt im freien Wasser, wo Eier und Spermatozoen der gleichen Art sich treffen. Die Arterhaltung wird durch die sehr große Anzahl der ausgestoßenen Eier bzw. Spermatozoen gesichert: bei einem erwachsenen Tier sind es jedes Mal Hunderte von Millionen.
Diese Beobachtungen haben sich kommerzielle Muschelfarmen zu Nutze gemacht, sie produzieren mittlerweile große Mengen von Nachzuchten. Ein großer Teil von Ihnen gelangt in die Verkaufsaquarien der Zoohändler, ein noch größerer Teil dient – insbesondere im asiatischen Raum – dem Verzehr.
Riesenmuscheln im Aquarium
Fast alle kleiner bleibenden Arten der Tridacnidae können speziell im Riffaquarium gut und lange gehalten werden. Voraussetzung ist der Erwerb von gesunden, nicht zu kleinen Tieren. Vor dem Kauf solltest Du die Tiere eingehend begutachten:
- Die Schalen dürfen keine Beschädigungen (insbesondere Risse) durch den Transport aufweisen. Tridacnidae sind unter Aquarienbedingungen nur sehr schwer in der Lage, solche Beschädigungen zu regenerieren.
- Das Tier sollte sich bereits mindestens 2 Wochen im Händleraquarium befinden. Ein erneutes Umsetzen während der ersten 2 Wochen bedeutet für viele Tiere lebensbedrohenden Stress.
- Der Mantellappen muss unbeschädigt sein!
- Das Tier darf keine Ausbleichungen am Mantellappen aufweisen.
- Der Byssusapparat (Drüsen zur Erstellung der Byssusfäden für die Verankerrung der Muschel) muss intakt sein!
- Das Tier muss beim Händler unter mindestens ausreichenden, besser guten Lichtverhältnissen gehältert werden.
- Und ganz wichtig: Kaufe ausschließlich Nachzuchttiere!
Wenn Du ein gesundes Tier erworben hast, gestaltet sich die Aquarienhaltung recht einfach:
Das Wasser soll klar und frei von Sedimenten sein. Die Lichtbedingungen müssen optimal sein. Der Standort und die Lichtintensität werden nach dem Farbkleid ausgerichtet: Sehr farbenfrohe Tiere können direkt unter Licht platziert werden, dunkle und bräunliche Tiere müssen langsam an das HQI-Licht gewöhnt werden, damit die Zooxanthellen nicht geschädigt werden.
Der Standplatz sollte sanft durchströmt werden, damit sich auf dem Mantellappen keine Sedimente ablagern können.
Die Vergesellschaftung mit Fischen ist problemlos, soweit es sich nicht um Kaiserfische handelt. Natürlich muss wie bei jedem Neuerwerb die gesamte Palette der möglichen Reaktionen der „Altbewohner“ bedacht und beobachtet werden (Revierverhalten, Strömungsveränderung im Aquarium…) denn es gibt leider auch immer wieder mal den einen oder anderen Putzer oder Falterfisch, der die Muscheln belästigt.
Übrigens – Riesenmuscheln können in der Natur bis zu 100 Jahre alt werden – im Aquarium werden wir das wahrscheinlich nicht schaffen, aber 20 Jahre sind keine Seltenheit!
Kopfbild: Tridacna sp. im Meerwasseraquarium. Foto: Andreas Berns
Andreas Berns ist seit seinem Studium zum BTA freiberuflich als Aquarium-Consultant tätig. In dieser Funktion plant und baut er seit 15 Jahren Aquarienprojekte, u.a. große Meerwasser-Becken sowie Becken mit besonderen Bauformen.
Darüber hinaus arbeitet er als Berater des Veterinäramtes und schreibt als Autor für verschiedene Fachmagazine.
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